Mittwoch, 7. März 2012

NZZ Folio





Aus der März 2012 Ausgabe von NZZ Folio 
http://www.nzzfolio.ch/www/dada0e91-b9c0-4d4f-abc4-b343d2760100/showpages/nzz-folio.aspx
Evtl. Di, 20.00 Uhr, SF 1: Serie: Der Bestatter 
«Ruhe bitte, wir drehen!»Das Problem mit den Schweizer Serien ist einfach: Es gibt entweder eine oder keine. Der Grund ist das Geld: Eine Spielfilmminute kostet um die 20 000 Franken, eine Serie geht in die Millionen. Dar um ist jede ein Ereignis, im Haus SF, in der Filmbranche, in den Medien. Aber von Erwartungsdruck ist dem Fernsehmann Niklaus Schlienger nichts anzumerken an diesem dritten Drehtag der Pilotfolge des Bestatters. So heisst der Arbeitstitel der neuen Schweizer Krimiserie, in der Mike Müller die Hauptrolle spielt: einen ehemaligen Polizisten, der es in seinem neuen Beruf mit Leichen zu tun bekommt, die sich als Verbrechensopfer entpuppen – und seinen kriminalistischen Instinkt wecken.

Es ist der 17. Januar, gedreht wird in der «Faktorei» in Bäch am Zürichsee. Die Filmtruppe hat den altehrwürdigen Gasthof für drei Tage in ein Feldlager verwandelt. Im Gang, den Stiche von Bäch zieren und von «Zürisee- und Limmetfisch im 18. Jahrhundert», stehen Materialkisten herum, ein Koffer mit Kameraobjektiven, aufgerollte farbige Folien des Beleuchters. In der «Seestube», dem kleinen Säli, hat sich die Produktionsleitung mit vier Computern und einer Kaffeemaschine eingenistet. Die getäfelte Gaststube ähnelt einer Abstellkammer, vollgestellt mit Scheinwerfern, Stativen, neben dem Kachelofen eine Bockleiter. Und mitten im Raum krümmt sich ein junger Mann mit Kopfhörern vor einer komplizierten, auf einen Rollwagen montierten Apparatur. Es ist der Tonmeister, der mit halbgeschlossenen Augen verfolgt, wie im oberen Stock die kurze Szene gedreht wird, in der die junge Serviertochter Lia fluchtartig ihr Zimmer verlässt.

Niklaus Schlienger, Projektleiter Serien beim Schweizer Fernsehen, hat sich in der Gaststube etwas abseits hingesetzt und streckt die langen Beine von sich. Der Routinier mit über dreissig Jahren Fernseherfahrung ist als Besucher gekommen. Seine Hauptarbeit fand vorher statt, bei der Auswahl und der Bearbeitung des Drehbuchs, beim Entscheid für den Produzenten, den Regisseur und die Schauspieler. «Beim Dreh selbst sollte man eigentlich nicht mehr eingreifen müssen», flüstert er, denn jetzt hat der Aufnahmeleiter wieder durchs Haus gedonnert: «Ruhe bitte, wir drehen!» In der «Faktorei», in der bei jedem Schritt die Böden knarren, herrscht Grabessttille, bis er nach zwei Minuten ebenso laut verkündet: «Und aus, danke!»

Im oberen Stock ist der Regisseur noch nicht zufrieden. Vor dem Zimmer, in dem die Serviertochter erneut übt, hastig nach Mantel, Schal und Tasche zu greifen, sitzt Marc Ottiker in Jeans, Hemd und Baseballkappe über den Monitor gebeugt, der ihm zeigt, was die Kamera drinnen aufnimmt. Er weist seine Assistentin an, wie sie das Duvet, den Teddybären und den Brief auf dem Bett arrangieren soll, als würde er auf seinem Monitor ein Stillleben malen. «Ruhe im ganzen Haus, wir drehen!» ertönt es erneut, die Serviertocher stürzt aus dem Zimmer, die Kamera zoomt aus der Totale aufs Bett, auf den Teddybären und den Brief. Und aus. «Das ist es», ruft Ottiker, «der archetypische Aufbruch!»

Etwa zwanzig Leute sind heute am Drehort, vier Schauspieler und die Equipe von Markus Fischers Produktionsfirma Snakefilm: die Produktionsleitung, die Bild-, Ton- und Lichttechniker, die Frauen für Ausstattung, Requisite, Kostüme und Maske. Fischer ist Ende fünfzig, ein erfahrener Regisseur und Produzent; in dieser Doppelrolle ist er auch für die Hunkeler-Fernsehkrimis mit Mathias Gnädinger verantwortlich. Selber produziert das Fernsehen weder Filme noch Serien. Der 1996 besiegelte «Pacte de l’audiovisuel» mit den Schweizer Filmschaffenden überlässt dies vollständig Externen. Damit ist das Schweizer Fernsehen der wichtigste Geldgeber des Schweizer Films: 100 Millionen Franken flossen in den vergangenen zehn Jahren für die Produktion von Fernsehfilmen in die Kassen der Branche; und zusätzlich noch 50 Millionen für Kino-Koproduktionen.

Markus Fischer neigt zu einem grimmigen Blick, auch wenn alles rund läuft. Rastlos ist er am Drehort unterwegs, jetzt startet er gerade in der Gaststube seinen Laptop auf und begutachtet mit Niklaus Schlienger die Muster des ersten Drehtags. Das sind noch ungeschnittene und unbearbeitete Aufnahmen, aber die beiden haben in ihrem Leben genug Muster gesehen, um sich den Film im Kopf zusammensetzen zu können. Vor allem bekommen sie eine Antwort auf die zentrale Frage: Wie wirken die Schauspieler? Schlienger starrt auf die Szene, in der Mike Müller sich im Bett wälzt und plötzlich aus einem Albtraum hochfährt. Was er sieht, gefällt ihm. Den Bestatter mit Mike Müller zu besetzen war ein Wagnis. Das Schweizer Fernsehpublikum kennt ihn als Komiker. Wird es ihn auch als Totengräber auf Verbrecherjagd akzeptieren? Schlienger ist zuversichtlich.

Der Tagesplan ist ambitiös, Fischer musste den Pilotfilm knapp kalkulieren. Sieben Minuten werden abgedreht, doppelt so viel wie normalerweise bei einem Spielfilm. Für das Mittagessen ist eine Dreiviertelstunde eingeplant, die Filmleute bekommen es auf dem Parkplatz der «Faktorei» vom Cateringservice in einem Zelt serviert, das an diesem kalten Januartag notdürftig von einem Heizstrahler erwärmt wird. Marc Ottiker, der vor über zwanzig Jahren von Zürich nach Berlin zog, dort hängenblieb und vor allem in Deutschland Regie führt, löffelt seine Marronisuppe und ist in Gedanken bereits bei der Schlüsselszene des Tages, die in der Küche des Gasthofs spielt. 3 Minuten 50 Sekunden dauert sie, im Drehplan heisst sie «Showdown», Ottiker nennt sie die «Monsterszene».

Am Nachmittag besucht der Autor Hartmut Block die Dreharbeiten. Der leutselige Kölner, der Tatorte geschrieben hat und diverse Serien beliefert, kommt gern ab und zu aus der Einsamkeit seiner Schreibstube heraus. Die Idee für den Bestatter hatte er schon 2006. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Fernsehautor Schubladen voller unverfilmter Stoffe hat. Das Verhältnis von Ideen zu Realisiertem liege bei ihm etwa bei 8 zu 1, sagt Block, das sei nicht schlecht.

Wäre die Schweizer Spitalserie Tag und Nacht 2009 ein Erfolg geworden, läge der Bestatter vielleicht heute noch auf Blocks Ideenfriedhof. Aber Tag und Nacht war ein Flop, anders als der Vorgänger Lüthi und Blanc, der auf 288 Folgen und einen durchschnittlichen Marktanteil von 33 Prozent kam. In der Primetime, wie das Hauptabendprogramm in der Fachsprache heisst, liegt die Latte bei einem Marktanteil von 30 Prozent. Tag und Nacht erreichte sie nur anfangs und fiel dann auf unter 20 Prozent. Die damalige Fernsehdirektorin Ingrid Deltenre verbannte die Serie nach 18 Folgen ins Vorabendprogramm, nach 36 Folgen zog sie den Stecker. Ein Nachfolgeprojekt wurde nach ihrem Abgang auf Eis gelegt. Erst als der neue Radio- und Fernsehdirektor Ruedi Matter 2010 entschied, dass eine neue eigene Serie hermusste, sprang die Serienmaschine wieder an.

Auch in den Schubladen von Niklaus Schlienger und seinen Kollegen sammeln sich die Fernsehstoffe. Allein für Fernsehfilme am Sonntagabend werden jedes Jahr bis zu fünfzig eingereicht. Viermal jährlich wird dann an der Stoffauswahlsitzung die Spreu vom Weizen getrennt. Die Projekte werden daraufhin abgeklopft, ob sie die Kriterien des Fernsehens erfüllen: Sie müssen eine eigenständige Geschichte zu einem relevanten Thema erzählen und Zuschauerpotential haben. Und Swissness ist wichtig, sie müssen in der Schweizer Lebensrealität geerdet sein. Der Bestatter setzte sich durch gegen Geschichten, die in einem Tierpark spielten, einer Anwaltskanzlei, einer Tanzschule, einer Behindertenschule, einem Flughafen, einem Dorf. Ebenfalls gute Chancen, dereinst in die Produktion zu gehen, hat die Geschichte um eine kleine Regionalbank, die von einer Grossbank geschluckt wird.

Dass der Krimi eines Kölners in Sachen Swissness nicht allzu viel bieten kann, störte weder Niklaus Schlienger noch seinen Chef Urs Fitze, den Leiter Fiktion in der Kulturabteilung des Fernsehens. Fernsehstoffe sind Rohmaterial. Am Bestatter überzeugte die Fernsehmacher auf Anhieb die Hauptfigur, ihre Schlitzohrigkeit und Selbstironie; und die Geschichte war nicht reisserisch, sondern familientauglich, wie es der vorgesehene Sendeplatz im Hauptabendprogramm verlangt. Block erhielt im Frühling 2011 den Auftrag, ein Serienkonzept und sechs Folgen zu skizzieren. Aus einer davon fertigte er bis im September das Drehbuch für den Pilotfilm. Während es in die erste Überarbeitungsrunde ging, gab das Schweizer Fernsehen Markus Fischer und seiner Firma Snakefilm den Zuschlag für die Produktion. Fischer führte das Casting durch, verpflichtete Marc Ottiker als Regisseur und schrieb mit ihm bis im Dezember die definitive Fassung des Drehbuchs. Sie mussten die Geschichte nicht nur ins Schweizerdeutsche übersetzen und auf Schweizer Verhältnisse zuschneiden, sondern auch den Bedingungen des Pilotfilms anpassen, der aus Kostengründen statt 45 nur 35 Minuten lang ist. Dafür strafften sie Nebenhandlungen oder kippten sie ganz.

In der Küche der «Faktorei» schnallt sich der Kameramann die Steadycam um, eine Halterung für die 20 Kilogramm schwere Kamera, mit der er auf engem Raum beweglich bleibt und trotzdem kein Bild verwackelt. Wo sonst Pfannen und Töpfe umherstehen, strahlen jetzt kleine LED-Scheinwerfer. Weil das Tageslicht stören würde, hat der Beleuchter das grosse Küchenfenster schwarz abgeklebt. Ottiker arbeitet präzis, stets höflich, aber verbindlich. «Ich möchte, dass du zärtlichen Sarkasmus in deinen Ausdruck legst», gibt er einer Schauspielerin als letzte Anweisung für ihren Auftritt. Sie schliesst die Augen, legt die Hände zusammen wie zum Gebet, spricht leise vor sich hin. Dann sagt Ottiker «Und bitte!» und die «Monsterszene» beginnt.

Hartmut Block hat keine Mühe damit, wenn das, was hier gedreht wird, nicht genau so in seinem Drehbuch stand. «Ich verstehe mich als Dienstleister, der Profi macht auch Kompromisse.» Er diskutiert mit Schlienger und Fischer in der Gaststube über das Entwicklungspotential der Nebenfiguren. «Von den Sidekicks kann ganz viel ausgehen», sagt er, «in einer Nebengeschichte könnte sich zum Beispiel herausstellen, dass jemand ein Familien- oder Liebesproblem hat.» Entscheidend aber ist der Hauptdarsteller, mit ihm steht oder fällt die Serie. Mike Müller taucht erst am späteren Nachmittag auf. Nach dem Umkleiden und der Maske kommt er als Bestatter im grauen Anzug und mit schwarzer Krawatte die Treppe hinunter. Im Produktionsbüro wartet er zeitunglesend auf seinen kurzen Auftritt. Nur gerade zwei Wörter gesteht ihm das Drehbuch heute zu: «Frau Steiner».

Vor dem Herbst 2012 wird das Fernsehpublikum die «Monsterszene» nicht zu sehen bekommen. Wenn die Fernsehchefs die Serie absegnen, wird man den Pilotfilm um zehn Minuten verlängern und nachdrehen, was man jetzt gestrichen hat. Aber noch hat der Bestatter die letzten Hürden nicht genommen. Sobald der Pilotfilm fertiggestellt ist, testet ihn Ende Februar ein Meinungsforschungsinstitut in Zürich an Zuschauern. Versorgt mit Häppchen und Getränken, werden sich zwei Fokusgruppen mit je zehn Leuten den Film anschauen. Das Institut wählt sie nach den Vorgaben von Irmtraud Oelschläger aus, der Zuschauerforscherin des Fernsehens (siehe auch 12.15: Der erforschte Zuschauer). Der Frauenanteil soll bei 60 Prozent liegen, das Alter zwischen 40 und 60, das entspricht dem Durchschnittspublikum, das am Dienstag um 20 Uhr vor dem Fernseher sitzt. Und keine Krimimuffel dürfen es sein. In einem benachbarten Raum werden Schlienger und Fischer sitzen und per Videoübetragung beobachten, wie das Testpublikum reagiert.

Anhand eines Leitfadens der Zuschauerforscherin wird der Moderator des Instituts nach der Vorführung die Testpersonen nach ihren Eindrücken befragen. Er wird zum Beispiel wissen wollen, ob Mike Müller in seiner Rolle als Bestatter und Ermittler glaubwürdig wirke, ob die Zuschauer die Geschichte spannend gefunden hätten, ob sie sich eine weitere Folge der Serie anschauen würden und ob Aarau als Hauptschauplatz der Handlung gut gewählt sei. Die Antworten fliessen in ein 20seitiges Papier, aus dem Irmtraud Oelschläger das Wichtigste auf einer A4-Seite zusammenfasst. Wenn nötig, könnten die Filmemacher beim Schnitt des Films noch etwas ändern, Unklarheiten beseitigen oder Wichtiges akzentuieren. Die Erkenntnisse aus den Testvorführungen werden auch der Geschäftsleitung des Fernsehens unterbreitet, die das letzte Wort hat. Erst nach Erscheinen dieses Hefts findet die Sitzung statt, an der in der Chefetage der Entscheid fällt, ob der Bestatter auf den Bildschirm kommt oder bereits begraben wird.
Daniel Weber

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